Ein grüner Anstrich allein genügt nicht, um die Klimaziele zu erreichen: Ausstattungsprodukte wie zertifizierten Bodenbeläge erfüllen bereits strenge Vorgaben, um Nachhaltigkeitsanforderungen im Baubereich zu erfüllen. (Foto: Nora Systems/Angelo Kaunat)

Die Ziele der europäischen Politik für den Weg zur Klimaneutralität 2030 werden unser berufliches und privates Leben deutlich beeinflussen, uns vor Herausforderungen stellen, aber auch Chancen bieten.

Kennen Sie schon „Fit für 55“? Wer glaubt, dass dies ein Fitnessprogramm für Raumausstatter im besten Alter ist, den müssen wir leider enttäuschen. Es ist ein Plan, den die europäische Kommission im Rahmen des Green Deal Mitte Juli vorgestellt hat. Er soll dazu beitragen, dass in den Ländern der Europäischen Union bis zum Jahr 2030 mindestens 55 Prozent weniger Treibhausgase emittiert werden als 1990. Das „Fit für 55“-Paket umfasst zwölf klima- und energiepolitische Vorhaben, die auch Raumausstatter betreffen. Dazu ZDH-Generalsekretär Holger Schwannecke: „Für das Handwerk als Gestalter der Nachhaltigkeitswende ist das Programm von großer Bedeutung. Gleichzeitig kommen in der jetzigen Ausgestaltung zusätzliche Herausforderungen und Kosten auf viele Handwerksbetriebe zu.“ Schwannecke spricht dabei insbesondere die energetische Sanierung an, die ein wichtiger Bau- stein zur Erreichung der Klimaziele darstellt. „Die Renovierung des Gebäudebestands der EU ist eine Schlüsselpriorität des Green Deals“, sagt auch EU-Energiekommissarin Kadri Simson in einer Plenardebatte zur Renovierungswelle. Simson geht davon aus, dass zur Umsetzung in den nächsten acht Jahren bis zu 35 Millionen Gebäude in Europa renoviert werden müssen. „Wir erwarten, dass der Green Deal seinem Anspruch als Strategie eines nachhaltigen Aufschwungs gerecht wird und wichtige Innovations- und Wachstumsimpulse auslöst. In den folgenden Gesetzgebungsprozessen werden wir darauf aufmerksam achten“, erklärt Schwannecke.

Die Rolle des Handwerks

Auf den ersten Blick könnte der Eindruck entstehen, dass von den geplanten Maßnahmen nur Betriebe profitieren, die beispielsweise Wärmedämmung anbringen oder neue Heizungsanlagen montieren – dem ist nicht so. Auf Grundlage der aktuell in Überarbeitung befindlichen europäischen Bauproduktenverordnung werden alle Gewerke von der Renovierungswelle getragen. Die neue Bauproduktenverordnung – eine Rechtsverordnung der Europäischen Union, die EU-weit einheitliche Produkt- und Prüfstandards für Bauprodukte festschreibt – soll der Nachhaltigkeit mehr Gewicht geben. Geplant ist, dass Neu- und Bestandsbauten im gesamten Lebenszyklus den Erfordernissen von Kreislaufwirtschaft, Digitalisierung und Klimaschutz entsprechen. Gesetztes Ziel ist, kreislauforientiertes Produktdesign und Reparaturfähigkeit weiter zu stärken. Ein Ansinnen, das fest in der DNA des Handwerks verankert, aber im Bewusstsein der Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten verloren gegangen ist. Es ist davon aus- zugehen, dass vorerst im Objektbereich langlebigen, reparatur- und kreislauffähigen Produkten bei gleichem Eigenschaftsprofil der Vorrang gewährt werden muss. Über den Neubau wird dieses Vorgehen auch in den Markt der Privataufträge Eingang finden und langfristig zu einem gesellschaftlichen Umdenken führen und dazu, dass der handwerklichen Leistung wieder mehr Anerkennung und Wertschätzung gezollt wird.

Betriebe zukunftsfähig aufstellen

Eine sich gegenseitig befruchtende Verbindung zwischen Tradition und Innovation prägt das klassische Handwerk seit jeher. Nachhaltiges Handeln sollte für einen Raumausstatter also kein Trend, sondern täglich gelebte Praxis sein. Und das nicht nur, wenn es um die Ausführung von Kundenaufträgen geht, sondern auch bei der Organisation des eigenen Betriebs. Möglicherweise vorhandene Defizite können mit einem kurzen Test offengelegt werden (siehe Quick Check via Nachhaltiges Handwerk). Das Projekt „Nachhaltigkeit in Handwerksbetrieben stärken!“, das von der Zentralstelle für die Weiterbildung im Handwerk (ZWH) betrieben und durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert wird, gibt viele interessante Hilfestellungen. Zur zukunftsfä- higen Aufstellung des Betriebs gehört auch qualifiziertes Personal und damit einhergehend die Selbstverpflichtung zur Ausbildung. Leider sieht die Realität anders aus und der Fachkräftemangel scheint seine Ursache nicht nur im demografischen Wandel zu haben: Nach Statistik des Zentralverbands des Deutschen Handwerks gab es 2010 noch 2 255 Auszubildende im Raumausstatter-Handwerk, 2020 waren es nur noch 1 473 – gut ein Drittel weniger. Gleichzeitig nahm die Zahl der Ausbildungsbetriebe von 1 479 auf 993 ab. Eine Entwicklung, die dringend korrigiert werden muss, auch unter dem Aspekt, dass der Erfolg der vor knapp zwei Jahren wieder eingeführten Meisterpflicht im Raumausstatter-Handwerk daran gemessen werden wird, wie sich das Gewerk und sein Nachwuchs entwickelt.

CO2-Fußabdruck reduzieren

Das „Rückgrat der deutschen Wirtschaft“, wie Politiker nicht nur vor Wahlen das Handwerk gern betiteln, hat bereits erfolgreich die Corona-Pandemie geschultert, ist der Motor des Wiederaufbaus in den vom Hochwasser heimgesuchten Kommunen und wird wohl auch wesentlich zum Gelingen des Green Deal beitragen. Für den Raumausstatter gibt es viele Chancen, am Erfolg teilzuhaben, wenn er sich auf seine Tugenden besinnt: Die Verbindung von traditioneller Handwerkskunst und der gewissenhafte Umgang mit Ressourcen ist praktizierte Nachhaltigkeit. In der Praxis könnte also das Polstern eine Renaissance erfahren, wenn hochwertig verarbeitete Sitz- und Liegemöbel einen Neubezug rechtfertigen und nicht als Wegwerfprodukt konzipiert werden. Mit der gleichen Argumentation lassen sich Wandbespannung und verspannte Teppichböden in den Fokus des Konsumenten rücken: Sind die aufwendigen Vorarbeiten einmal erledigt, kann ein Aus- tausch schnell und sauber erfolgen, ohne zusätzliche Ressourcen zu verschwenden. Aber auch der Werterhalt durch Reinigung und Pflege, beispielsweise von Dekorationen oder Sonnenschutz-Anlagen am Fenster, können Abfall vermeiden. Im Neugeschäft der Erstausstattung hilft der Einsatz besonders ökologischer Produkte, den CO2-Fußabdruck der eigenen Arbeit zu reduzieren (siehe auch Responsible Design Seite 26–31). Einen wirkungsvollen Beitrag leisten kreislauf- fähige Materialien: In Zukunft werden wohl weniger rausgerissene Bodenbeläge und verschlissene Stoffe im Müllcontainer landen, sondern effektiv dem Recycling zugeführt wer- den. Dass ein Umdenken beim Konsumenten bereits eingesetzt hat, bestätigten die Marktforscher von BauInfoConsult aus Düsseldorf in ihrer Jahresanalyse: „Die beherrschenden Trends auf Nachfrageseite bleiben aus Sicht der Architekten, Verarbeiter und Hersteller weiter Energieeffizienz und Nachhaltigkeit.“ Dem Klimawandel entgegenzutreten ist also nicht nur eine gesellschaftliche Verpflichtung, sondern bietet auch unternehmerische Chancen.